Das Digitale ist alt. Dennoch hat die sich in den letzten 20-30 Jahren derart schnell verändernde und alles durchdringende technologische Umwelt andere Formen des Um- und Zugangs zu unseren Lebensweisen hervorgebracht.
»Il n’y a de puissance que dans la Relation, et cette puissance est celle de tous.« [1]
»Power only lies in Relation, and this power is that of, and belongs to, all.« [2]
Wie wir uns aufeinander beziehen und zu etwas verhalten, sei es lebend, tot, materiell oder nicht, sei es Struktur oder System, oder die Welt als solche – wird von Medien und Technologie bestimmt. Sie erzeugen die Realität, in der Erfahrungen möglich werden, und prägen so unser Verständnis von Welt. Sie sind niemals unschuldig. Ideengeschichtlich sind Medien und Technologie schon lange mit einem Denken über Rasse und Kolonialismus verbunden, d.h. mit rassistischem Denken als Wissenssystem, welches das soziale Leben organisiert. Dazu haben bereits viele geforscht und die Grenzen dessen was überhaupt als Technologie gilt verschoben, um die Linien und Verknüpfungen zwischen Medien, Technologie und Rasse freizulegen. Einer von ihnen ist der Literaturwissenschaftler Louis Chude-Sokei, der sich intensiv mit den Verstrickungen der afrikanischen Diaspora befasst, und ein beeindruckendes Zeugnis für die ineinander übergreifenden Vorstellungen von und Beziehungen zwischen Blackness und Technologie geschaffen hat. In The Sound of Culture: Diaspora und Black Technopoetics (2016) bedient er sich Fällen aus der Literatur (einschließlich Science Fiction) und dem Klanglichen und zeigt wie der Automaton immer die Projektion des Anderen war, in den USA mit Sicherheit der des Schwarzen versklavten Menschen.
Die Arbeit der kanadischen Medienwissenschaftlerin Wendy Hui Kyong Chun ist in diesem Zusammenhang essentiell. Ihr Buch Freedom and Control (2006) zeigt, wie zentral Rassifizierung für die Entwicklung des Internets war. Ihr Aufsatz »Race AND/as technology« aus dem Jahr 2012 reflektiert Segregation als rassistische Technologie. Segregation wurde zum Grundprinzip der Netzwerkwissenschaften (network sciences), bezeichnet wird es mit dem Begriff »Homophilie«. Die einfache Annahme, dass »Liebe als Liebe zum Gleichen« - also die »gleichen Leute«, d.h. Menschen aus der gleichen sozial konstruierten Kategorie, zusammen sein wollen und daher nur miteinander interagieren - schuf die berüchtigten Echokammern. In ihnen sind wir gefangen, ob individuell oder kollektiv. Netzwerke treffen Annahmen, die auf Korrelation beruhen, sich also auf das Verhalten anderer Menschen berufen, ein Verhalten, welches meinem gleicht. Hochgradig segregierte Online-Communities sind daher keine Überraschung, sondern die logische Konsequenz. Das Versprechen der 1990er Jahre, dass der Cyberspace ein Ort der Dezentralisierung und Demokratisierung von Informationen werden würde - und damit eine andere Ordnung und Verteilung von Machtverhältnissen sowie mehr Partizipation und Freiheit zulassen könne - musste bald revidiert werden: »Homophilie [...] verschließt die Welt, die sie vorgibt zu öffnen.« [3]
Medien besitzen performative Qualitäten, eine Abwesenheit in der Anwesenheit oder eine immaterielle Materialität (die Medienphilosophin Sybille Krämer hat darüber ausführlich geschrieben). Deshalb neigen sie dazu, allgegenwärtig zu werden, ohne dass wir uns ihrer die ganze Zeit bewusst sind. Genauso wie wir nicht in der Lage wären, richtig zu kommunizieren, würden wir ständig über Grammatik und Syntax der Sprache nachdenken, interagieren wir heute mit Interfaces, Schnittstellen - makellos gestaltete Bildschirme -, welche die unvorstellbaren Mengen an Infrastruktur und Arbeit verbergen, die nötig sind, um sie zu betreiben oder auch das Internet am Laufen zu halten. Tatsächlich aber sind wir algorithmischen Systemen der Überwachung und Erfassung ausgesetzt: in der Öffentlichkeit, an Grenzen, Flughäfen und durch Anwendungen auf unseren Geräten. Wir merken gar nicht, wie Algorithmen entscheiden, was uns angeboten wird, was wir sehen, kaufen oder lesen, wohin wir gehen oder eintreten dürfen, wann wir geprofiled werden und welchen Kredit wir erhalten. Augenscheinlich werden wir bald von selbstfahrenden Autos chauffiert und treten in eine Zukunft der vollautomatisierten Gesundheitsversorgung ein. Medien und Technologie sind nie neutral - sie spiegeln die Gesellschaft wieder und sie neigen dazu, sich zu verbergen und undurchsichtig zu werden.
Weder Echokammern noch algorithmische/maschinelle Voreingenommenheit (bias) – eines der Schlagworte des Jahres 2020 – sind wirklich überraschend. Wenn überhaupt, sind sie eine Manifestation der historisch tief verwurzelten gesellschaftlichen Vorurteile, die sich zugegebenermaßen sehr unterschiedlich ausspielen, seitdem digitale Medientechnologie zum täglichen Leben gehört. Wie Vorurteile entstehen, welche Formen sie annehmen und welche Auswirkungen sie haben, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Algorithmische Systeme zum Beispiel funktionieren nur so gut wie die Daten, mit denen sie gefüttert werden. Wenn schlechte Daten eingespeist werden (=Input), werden schlechte Daten ausgegeben (=Output). Insofern ist die überstrapazierte Analogie, dass Algorithmen Black Boxes sind, sinnvoll. Das Input-Output-Modell ist die wörtliche Beschreibung der kybernetischen Black Box. Ein Problem der K.I.-Industrie ist, dass sie eine Industrie ist. In einem Wettlauf um die besten, effizientesten Algorithmen bedienen die dahinterstehenden Unternehmen den Markt, nicht den Menschen oder die Person, das Individuum, Verbraucher*in oder Nutzer*in (user). Es sind kommerzielle und letztlich finanzielle Interessen, die Menschen zu Ressourcen für die Datenextraktion machen. Hinzu kommt, dass Algorithmen für maschinelles Lernen mit Trainingsdatensätzen arbeiten und diese Rohdaten (raw data) müssen von Menschen gelabelt werden. Menschen sind diejenigen, die entscheiden, was sinnvoll ist, um Informationen zu extrahieren, damit die Algorithmen von den Daten lernen können. Es liegt auf der Hand, dass der Prozess auf der Ebene der Taxonomien, die zum Labeling der Daten verwendet werden, hinterfragt werden muss. Menschen »unterrichten« hier Maschinen. Die Macht der K.I.-Industrie und die Frage, inwieweit sie die globale Arbeiterklasse betrifft, wäre ein nächster wichtiger Anhaltspunkt. Allein für das Labeling der Daten werden unzählige Arbeitende benötigt, die in Büros in Ländern mit niedrigem Einkommen oder in ebensolchen Gebieten auf der ganzen Welt sitzen und diese Art von »ghost work« (Mary Gray) verrichten - in Indien, auf den Philippinen, in Ostafrika oder in Südamerika. Diese Menschen sind es, die die »Zukunft der Menschheit« aufbauen und ausbilden.
Voreingenommenheit wirkt auf vielen Ebenen und ist nicht nur Maschinen vorbehalten. Bisweilen bewegt sie sich stillschweigend und hält sich hartnäckig. Ein Beispiel: In der breiteren Wahrnehmung westlicher Länder wird Schwarzsein oft als das Gegenteil von oder im Konflikt mit technologischer Entwicklung, Innovation (die mit Zukunft oder Zukünftigkeit als Positivität assoziiert wird) und Fortschritt betrachtet. Die Gründe dafür sind komplex, vielfältig und historisch nachvollziehbar. Um mit dieser - auch rassistischen - Geschichte zu brechen, musste ein 1993 geprägter Begriff schnell als Sammelbezeichnung für ästhetisches Schaffen vom afrikanischen Kontinent herhalten, auch wenn dieses Schaffen Technokultur und Science Fiction noch so leicht berührte. Selbst wenn die Kunstschaffenden ihre Kunst selbst anders einordnen wollten, »Afrofuturismus« musste eben einfach herhalten. Der Begriff hat seine ganz eigene (wichtige) Geschichte, er hat mit Sicherheit viele disziplinäre Landschaften verändert und neue Stränge des Denkens und Schaffens beeinflusst. Vor allem hat er nicht an Aktualität verloren. Aber die willkürliche Assoziation von Schwarzen gemachter Kunst mit ihm, ist, nun ja, vereinfachend, einfallslos und rassistisch. Die Kolonialität globaler Machtverhältnisse liefert reichlich Berichterstattung über das Silicon Valley, Start-Ups aus den USA, Europa oder Ostasien, aber der afrikanische Kontinent scheint in dieser Gleichung der zukünftigen Akteure zu kurz zu kommen.
Dabei ist das Digitale schon recht alt. Und es regt, ehrlich gesagt, die Phantasie an, sich seine historische Formation vor Augen zu rufen. Denn Computing gab es lange vor Computern, und digitale Systeme existierten, bevor Maschinen in der Lage waren, digitalen Code zu verwenden. Der Begriff »digital« stammt vom lateinischen Wort »digitus« ab, was so viel heißt wie Finger oder Zeh. Wenn etwas in diskrete, abzählbare Einheiten unterteilt werden kann, wenn es in Stücke zerlegt werden kann, ist es digital. Die Tasten eines Klaviers sind ein digitales System, ebenso wie unsere Hände. [4] Was heute oft umgangssprachlich gemeint ist, wird vom Digitalen gesprochen, ist entweder das Internet (als Netzwerk von Computernetzwerken) oder eine elektronische Maschine, die 0en und 1en berechnen kann.
Die portugiesischen Regisseurin Filipa Cesar reflektiert in einem ihrer Filme die Geschichte digitalen Codes, indem sie spezifische und scheinbar unerwartete Relationalitäten beleuchtet. Der Dokumentarfilm QUANTUM CREOLE bietet ein ganzes Spektrum von Möglichkeiten, durch Kreolisierung eine andere Welt zu sehen, zu hören, zu denken, zu imaginieren und zu manifestieren. Ein Konzept, welches weitläufig mit dem Martinischen Dichter und Philosophen Édouard Glissant verbunden wird. Die Beschreibung des Films lautet:
While the Punch-card technology, designed for the textile loom, was fundamental for the development of the computer, the binary code is closer to the ancient act of weaving than to that of writing. Quantum Creole is an experimental documentary film of collective research into creolization, addressing its historical, ontological and cultural forces. Referring to the minimum physical entity in any interaction—quantum—the film utilizes different imaging forms to read the subversive potential of weaving as Creole code. West African Creole people wove coded messages of social and political resistance into textiles, countering the colonists’ languages and technologies. As the new face of colonization manifests itself as a digital image, upgrading terra nullius in the form of an ultra-liberal free trade zone in the Bissagos Islands, it also marks the continuation of the violence that erupted several centuries ago with the creation of slave-trading posts in the place then known as the Rivers of Guinea and Cape Verde. [5]
Die Textilherstellung ist eine aufwendige Technologie, die als Handwerk feminisiert und damit als weniger bedeutungsvolle Technologie herabgewürdigt wurde. Ihre technologischen Qualitäten und die Rolle, die sie bei der Artikulation von politischem Widerstand spielte, musste erst ausgegraben werden, so wie die Geschichte von Frauen in der Informatik.[6] In QUANTUM CREOLE spricht die guineische Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Odete Semedo von »cloths as bearers of speech. They simply speak.« Es ist eine unmögliche Aufgabe, dieses Bild (the cloth) von den Anfängen dieser medientechnologischen planetarischen Transformation, dieses binäre Websystem, das der Webstuhl war, in die massive Operation zu übersetzen, die dieses formalisierte Regelwerk heute geworden ist.
Die kulturelle Logik des Binären, die das Digitale durchsetzt und materialisiert, wird zunehmend zu einem umkämpften Boden, zu einem Ort, der aufgebrochen oder durchbrochen wird. Ein Großteil der theoretischen Arbeit wurde jahrzehntelang von minoritären Standpunkten aus oder den so genannten Minderheitendisziplinen geleistet, wie etwa der Kritischen Theorie, dem Poststrukturalismus, der Schwarzen feministischen Theorie und anderen. Lange bevor es das Digitale gab so wie wir es jetzt erfahren, haben diese das aufklärerische Produkt, alles als binäre Gegensätze zu konstruieren, in Frage gestellt – Natur/Kultur, Mensch/Maschine, Schwarz/Weiß, Herr/Sklave (die letztgenannte Terminologie wird übrigens heute noch in der Informatik und im Software-Engineering verwendet), und mehr. Hier spreche ich allerdings speziell von der Praxis, der eigentlichen Arbeit des Programmierens. Es ist möglich, anderen Code zu schreiben, andere Netzwerke zu bauen als die derzeit maßgeblichen, Netzwerke mit »structures that privilege difference and inclusion« [7] , sowie alternative algorithmische Systeme. Es wird eine Frage von Macht sein, aber je mehr Menschen lernen, wie man programmiert und digitale Werkzeuge benutzt, desto besser – alle Macht den Menschen.
Noch einmal: Das Digitale ist alt. Dennoch hat die sich in den letzten 20-30 Jahren derart schnell verändernde und alles durchdringende technologische Umwelt andere Formen des Um- und Zugangs zu unseren Lebensweisen hervorgebracht. Viele der Probleme und Feinheiten, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, sind historisch gewachsen. Sie sind ebenso bereits lange vorhanden. Voreingenommenheit ist nicht wegen oder durch digitale Werkzeuge und Technologien entstanden. Was uns das Digitale gerade jetzt anzubieten vermag, ist eine spezifische Sichtweise und damit ein Standpunkt, von dem aus sich Möglichkeiten ergeben, den gegenwärtigen (technologischen) Zustand zu kritisieren, die Strukturen, in die wir eingebettet sind, in Frage zu stellen und all unsere Beziehungen zu überdenken und neu zu konzipieren – Beziehungen zwischen dem Lebendigen, dem Technischen, der Umwelt und der Welt als Ganzer, dem Materiellen und all ihren Überschneidungen. Obwohl sich die Welt im Moment für so viele Menschen unverbunden, gar losgelöst, anfühlt – eine Welt, die noch nie zuvor derart verbunden war – ist es möglich, sie sich anders vorzustellen und auch ebenso zu erschaffen.
[1] Chamoiseau, Patrick/Glissant, Édouard (2009): L’Intraitable Beauté du monde: adresse à Barack Obama, Paris: Galaade Éditions, S. 55.
[2] Édouard Glissant, translated by Coombes, Sam (2018): Édouard Glissant – A Poetics of Resistance, London: Bloomsbury Academic, S. 11.
[3] Chun, Wendy Hui Kyong (2018): »Queerying Homophily«, in: Apprich, Clemens/Chun, Wendy Hui Kyong/Cramer, Florian/Steyerl, Hito: Pattern Discrimination. Minneapolis/Lüneburg: Minnesota University Press/meson Press, S. 60.
[4] Siehe Florian Cramer’s Essay (2014) »What Is ‘Post-Digital‘?«
[5] https://www.spectre-productions.com/en/catalogue/quantum-creole (zuletzt 18.12.2020)
[6] Siehe beispielsweise Sadie Plant’s Buch (2008) Zeros and Ones: Digital Women and the New Technoculture,
[7] Brawley, Dare/Chun, Wendy Hui Kyong/House, Brian/Kurgan, Laura/Zhang, Jia (2019) »Homophily: The Urban History of an Algorithm«. https://www.e-flux.com/architecture/are-friends-electric/289193/homophi… (zuletzt 18.12.2020)
Eine abgewandelte Version dieses Texts erschien in englischer Sprache zuerst in der 11. Contemporary And (C&) Printausgabe: CONSCIOUS CODES, ANYONE? am 19. Juni 2020.